»Ihrrweiss niehrrt, wahs sohlbe deute, / dass ihrrsoo trau riehrrtbien, / eimährre aussallteseite…« – Der deutsche Reim auf »trau riehrrtbien « kommt dem kasachischen Heizer der turkestan-sibirischen Eisenbahn, der Turksib, in der gleichnamigen Erzählung von Lutz Seiler nicht mehr in den Sinn. Er war zuvor an den Ich-Erzähler aus Ostdeutschland, der unschlüssig vor seinem Abteil gestanden hatte, herangetreten, hatte die Hacken seiner Stiefel zusammengeschlagen und jene Verse aus Heinrich Heines Die Loreley gesprochen. Was soll es bedeuten, sein stets an derselben Stelle abbrechendes Klagelied – hier, zwischen einem ehemaligen Militär der Sowjetarmee, der sonst kein Wort Deutsch spricht, und dem Reservisten einer schon längst untergegangenen Volksarmee? Während für den Heizer ein irgendwo aufgeschnappter Gesang »aus alten Zeiten« nun endlich seinen Abschluss findet, ruft der nun freudig wiederholte Vers – »Koohmt-nierrh-aus- Sieenn« beim Ich-Erzähler die vergessen gehoffte Erinnerung an seine Militärszeit auf. Seine Schlagfaust fliegt auf den sprechenden Mund des Heizers und »zerschlägt den Vers«. Der Heizer wiederum weiß aus dieser Begegnung keinen anderen Ausweg, als dem Ich-Erzähler erneut einen Bruderkuss auf den Mund zu geben. Doch ein jäher Stoß des Zuges, vielleicht im Passieren einer Weichenstelle, lässt seine Zähne in den Lippen des Erzählers festbeißen: Verkeilte Münder zweier Geschichten, eines geteilten Gesangs.
Zuvor war dem Ich-Erzähler berichtet worden, dass die Bewohner der Steppe bereits zu Lebzeiten Sorge tragen für ihr späteres Klagelied. Und während der Begegnung meint der Ich-Erzähler in jenem Heine’schen Gesang sogleich jene Verse zu erkennen, die der Heizer zu »seinem Klagelied erwählt hatte«. Unvergesslich macht Turksib, dass sich hier ein Gesang bekundet, jenseits der je eigenen Geschichte, über die Grenzen der Idiome hinweg. Eine Klage, in der »wir gefangen bleiben in einer Art Fischgesang«, der zwischen den »Ufern hin- und herwogt und nirgendwo Land gewinnt«. Eine Loreley der Steppe, Trauer der Geschichte selbst, »mit die Vokale überdehnender Stimme«. |